Interview

«Selbstbestimmung in der Betreuung»: Ein Gespräch mit Silke Schmidt

Wenn es um die Betreuung von körperlichen und kognitiven Beeinträchtigten geht, erfährt das Thema Selbstbestimmung eine besondere Bedeutung. Dazu kommt, dass im Eichholz Menschen betreut und begleitet werden, die sich in der Regel auch selbst vertreten können.

Aus diesen Gründen spielt der Artikel 19 "Selbstbestimmtes Leben" der UN-Behindertenkonvention in der alltäglichen Betreuungsarbeit im Eichholz eine ganz wichtige Rolle. Doch wie äussert sich das konkret in der Arbeit? Wie gestaltet sich heute Betreuungsarbeit im Eichholz? Was hat sich im Laufe der Jahre verändert? Und was hat das für Auswirkungen auf das Fachpersonal? Ein Gespräch mit Silke Schmidt, Bereichsleiterin Wohnen und Mitglied der Geschäftsleitung.


Du leitest den Bereich Betreuung im Eichholz. Wie wichtig sind das Thema UN-Behindertenrechtskonvention und die sich daraus ergebenden Rechte aus Sicht der Betreuung?

 

Silke Schmidt: Auf jeden Fall ist das wichtig. Denn ich finde es erstaunlich, dass wir selbst nach 10 Jahren UN-BRK immer noch feststellen müssen, dass bei vielen Menschen oder auch in der Öffentlichkeit das oft gar kein Thema ist. Wir als Institution kennen das Thema natürlich schon sehr lange. Und entsprechend setzen wir vieles, was in der UN-BRK geregelt wird, auch schon um – teilweise bereits länger als nur zehn Jahre. Entsprechend finde ich das Feiern des Jubiläums mit den geplanten Aktionstagen – wie auch im Eichholz – sicherlich sehr hilfreich, um das Thema weiter in der breiten Öffentlichkeit zu verankern.

 

Im Eichholz spielt gerade das Thema Selbstbestimmung im Sinne von Artikel 19 der UN-BRK eine wichtige Rolle. Warum?

 

Ich arbeite schon sehr lange mit beeinträchtigten Menschen und wenn es um die Betreuung von körperlichen und kognitiven Beeinträchtigten geht, erfährt genau dieser Artikel bzw. Aspekt eine andere Wichtigkeit. Hier im Eichholz haben wir es mit Menschen zu tun, die sich selbst vertreten können, mit denen wir sehr gut reden und austauschen können. Natürlich kommen wir dabei aus verschiedenen Gründen nicht immer auf einen gemeinsamen Nenner, aber von unserer Haltung her ist die Richtung im Eichholz klar und diese wird auch entsprechend gelebt.

 

D.h. wenn wir das Thema Selbstbestimmung und Inklusion nehmen, nimmt das Eichholz eine Vorreiterrolle ein?

 

Als Vorreiter würde ich uns nicht bezeichnen, aber die Möglichkeiten sind im Eichholz durchaus gegeben, insbesondere diese Thematik in unserer Betreuungsarbeit aktiv zu leben und konsequent umzusetzen. Allerdings hängt die Art der Umsetzung auch immer von den einzelnen Menschen ab – sei es auf der Betreuungsseite wie auch bei den Dienstleistungsnutzenden. Wir haben schon teilweise Klientinnen und Klienten, die sehr starke psychiatrische Beeinträchtigungen haben, und da wird ein persönlicher Entscheidungsfindungsprozess auch schwieriger.

Was wir darüber hinaus im Rahmen von mehr Inklusion forcieren, sind die Angebote nach draussen, d.h. wir zeigen Wege auf, wie sich unsere Dienstleistungsnutzenden draussen vermehrt integrieren können – zum Beispiel im Sport, in den Vereinen, in Zusammenarbeit mit Privatpersonen, im Rahmen von Freiwilligenarbeit usw. Da gibt es heute eine Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen und Personen im Kanton Zug.

 

Wie würdest Du die «neue Betreuungsarbeit» aktuell charakterisieren?

 

Es ist einerseits ein Loslassen, andererseits ein Festhalten. Loslassen von alten Betreuungsmustern, wie z.B. alles für die Dienstleistungsnutzenden zu übernehmen oder auch alles vorzugeben. Beeinträchtigte Menschen hatten ja früher quasi keine Entscheidungsfreiheit. Als ich angefangen habe, vor 30 Jahren, haben die Betreuenden ja sogar entschieden, was auf das Brot der betreuten Personen kommt.

Die neue Freiheit ist gleichzeitig aber auch eine Herausforderung für die Begleitpersonen, weil es mehr Zeit braucht. Oft gilt es abzuwarten und geduldig zu sein, bis das Gegenüber sich entschieden hat. Es geht vermehrt darum, Angebote zu machen, über Möglichkeiten wie auch über Konsequenzen zu informieren. Das heisst, wir stehen in regem Austausch, klären auf, aber schlussendlich entscheidet die Klientin oder der Klient. Und dabei achten wir sehr darauf, mindestens immer zwei Möglichkeiten aufzuzeigen, ob beim Essen, bei der Freizeit, bei der Arztwahl oder auch der Medikamentation.

Wichtig ist aus meiner Sicht auch, dass wir in der Betreuung den Menschen die persönliche Entscheidung zumuten – was für viele neu und auch herausfordernd ist. Das kann auch mal schief gehen, aber wir sind ja auch nach der Entscheidungsfindung für die Dienstleistungsnutzenden da und begleiten; und das auch dann, wenn mein Gegenüber eine Entscheidung trifft, die vielleicht aus unserer betreuenden Sicht nicht so sinnvoll ist. Auch das gilt es auszuhalten.

Es ist also schon in unserer Arbeit ein grosser Paradigmenwechsel, der vordergründig bei den Betreuenden stattfinden muss. Als Führungspersonen ist es diesbezüglich unsere Aufgabe, die Mitarbeitenden in dieser neuen Haltung zu stärken, zu fördern und den Rücken freizuhalten. Wie gesagt: Jede Freiheit kann auch zu Unsicherheit führen. Das ist dann unser Job, das zu halten und zu managen.

 

Das heisst, die Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit seitens des Fachpersonals sind massiv gestiegen?

 

Sie haben sich sehr verändert. Ich würde sagen, das Kommunikationsfeld hat sich vergrössert und erweitert. Früher haben wir oft ad hoc entschieden, vieles hat man ja den Klienten und Klientinnen vorgegeben. Es wurde deutlich weniger ausgetauscht. Heute geht es mehr um das Warten, Begleiten, Lösungen finden, Abwägen, Informieren, Aufklären; kurz: um das Da-Sein. Die Kommunikation geht verstärkt in das Miteinander. 

Aber ich möchte an dieser Stelle auch erwähnen: Natürlich darf eine Bewohnerin oder ein Bewohner auch sagen, bitte entscheidet für mich, ich kann das nicht. Das gibt es auch.

 

Bringen denn gerade die jüngeren Mitarbeitenden diese neue Haltung bereits mit?

 

Ich würde das nicht am Alter festmachen. Es hat aus meiner Sicht mehr mit der eigenen Haltung zu tun. Was habe ich persönlich für eine Einstellung? Welches Wertebild lebe ich usw.? Sicherlich haben tendenziell ältere Betreuungspersonen, die schon 30-35 Jahre in der Psychiatrie arbeiten, die Erfahrungen gemacht, warum das Alte auch gut war – denn, es war ja damals nicht alles schlecht. Genauso ist umgekehrt heute nicht alles einfach nur gut.

Manchen fällt diese Entwicklung schwerer, anderen leichter. Aber die Grundhaltung im Eichholz ist deutlich spürbar und ganz klar: Wir warten, bis sich die Klientin oder der Klient in eine Richtung bewegt; und wir schreiten ein, wenn er es nicht kann oder nicht möchte. Und dabei ist alles okay bis zur nicht mehr vorhandenen Urteilsfähigkeit oder wenn es sich um eine Gefährdung von sich selbst oder anderen geht.

Es ist aber auch so, dass uns allen dabei immer auch mal Fehler oder Schnellschüsse passieren. Das sind Prozesse und Veränderungen, die eben ihre Zeit brauchen. 10 Jahre sind da quasi nichts. Aber die Grundsteine sind gelegt.

 

Du würdest also nach 10 Jahren festhalten, dass der Grad der Selbstbestimmung grösser geworden ist?

 

Auf jeden Fall, das ist so. Und wir sind gleichzeitig auf dem Weg, denn es gibt noch viel zu tun. Gerade im Bereich der Medikation sind wir jedoch heute viel weiter als noch vor Jahren. Aber auch hier ist es oftmals herausfordernd, Menschen in ihrer Entscheidung zu lassen, gerade wenn man sieht, dass jemand leidet, z.B. weil er die Behandlung oder bestimmte Medikamente ablehnt. Oder es wird zur Herausforderung, wenn die Entscheidung konträr zu der eigenen Vorstellung der Betreuungsperson läuft. Es gibt Menschen, die krank sind, und die sich entscheiden, nicht zum Arzt zu gehen. Das ist ihr persönliches Recht, und wenn es keine Gefährdung von Personen gibt, ist das okay. Die Konsequenzen trägt ja der Entscheider selbst.

 

So braucht es auch Aufklärung zu den Konsequenzen?


Ja, die Konsequenzen gilt es ebenfalls aufzeigen, das ist unsere Aufgabe. Wir klären auf, was passieren würde und könnte, und weisen in Klarheit und in Zugewandtheit auf die Konsequenzen hin, die auftreten könnten. Das ist Teil der Kommunikation und sollte auch nicht so ablaufen, wie wenn ich mit einem kleinen Kind reden würde.  Und wenn der Betroffene entschieden hat, gilt es, das als Betreuungsperson so zu akzeptieren und zu nehmen – ohne Vorwurf, ohne Schuldzuweisung. Und es zeigt sich diesbezüglich: Je klarer ich aufkläre, desto sicherer bin ich auch als Begleitperson. Das hilft der Betreuungsperson und der oder dem Betroffenen.

 

Das bedeutet, das Eichholz ist in Sachen UN-BRK gut unterwegs? 


Was jetzt läuft, läuft aus meiner Wahrnehmung genau in die richtige Richtung. Doch das alles muss und darf sich jetzt etablieren. Man muss das neue System leben, ausprobieren und dann kann man erst schauen, welche Erfolge erzielt werden können.

Wir haben zum Beispiel aktuell drei Personen, die aus dem Eichholz ausziehen in eine eigene Wohnung, weil das ihr Wunsch ist. Sie trauen sich das zu. Und jetzt probieren wir das mal. Wenn wir nur auf uns Fachpersonen hören würden, dann würde sicherlich der ein oder die andere sagen: Ja, ist vielleicht noch etwas früh. Aber wir sind ja da und wenn es nicht klappt, dann kann man auch wieder zurück. Wie gesagt, wir sollten mutig sein.

 

Haben die drei Dienstleistungsnutzenden, die jetzt diesen Schritt wagen, vorher in der WG gewohnt?

 

Ja, dadurch konnten wir das – zunächst intern – gut ausprobieren. Die verschiedenen Wohnformen zeigen ein mögliches, selbstständigeres Leben auf und sind sicherlich ein guter Zwischenschritt gerade in Richtung eigene Wohnung.

 

Silke, zum Abschluss: Was bedeutet Selbstbestimmung für Dich persönlich?

Selbstbestimmung bedeutet für mich, so zu leben, wie ich das möchte – gerade in Bezug auf Arbeit, Wohnen, Partnerschaft, und das im Bewusstsein der eigenen und der gesellschaftlichen Grenzen. Und das sollte auch für unsere Dienstleistungsnutzenden gelten.

 

Silke, besten Dank für den Austausch.